Die Selbstentmündigung: Sag mir, was ich glauben soll

in Deutsch D-A-CH9 months ago

Die Besten des Volkes geben Orientierung.

Tu, was Dir gesagt wird. Glaube, was erlaubt ist. Nimm, was man dir rät. Und widersprich nicht. Glaube. Liebe, aber hasse niemals niemanden und nichts. Seit die Gesellschaft in den Jahren nach der Finanzkrise eine neue Konfirmierung erfuhr, ist der Kollektivismus zur Zukunftsgewissheit geworden. Der Einzelne zählt nichts, das Wohl aller alles. Dass sich ein Leben nicht aufwiegen lässt gegen viele, ist ein Aberglaube aus anderen Zeiten: Gerichte entschieden, dass ausreichend weit verbreitete Vermutungen über die kommenden Wochen, Monate, Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte und Jahrtausende Leitschnur bei der Einschränkung individueller Freiheiten in näherliegenden Zeiträumen sein müssen.

Einäugig und weitsichtig

Die Masse der deutschen Bürger und Bauern, der Intelligenz, der Kaufleute, Handwerker, Beamten und Angestellten, selbst ein bedeutender Teil der Arbeiter, haben leider einen sträflich geringen Sinn für Freiheit und Demokratie bewiesen", klagte der aus Hamburg stammende Arbeiterführer Bernhard Koenen im ersten Nachkriegsjahr 1946. Koenen, einäugig, nachdem ihm die SA zusammengeschlagen hatte, überlebte das Dritte Reich im Moskauer Exil, recht knapp, einmal musste ihn KPD-Chef  Wilhelm Pieck im letzten Moment vor einem Erschießungskommando der Sowjets retten. Auch aus der Entfernung aber war ihm die "Selbstentmündigung politisch so breiter Kreise unseres Volkes" nicht entgangen. Sie habe, so Koenen, "immer schmählicheren Ausdruck" gefunden, "bis es schließlich hieß, wir brauchen nicht mehr zu denken".

Im Reich seiner Partei, der späteren SED, wurde es nicht anders und besser schon gar nicht. Wie auch, hatte sich doch der lange Zeit als Funktionär im Osten wirkende Tischlersohn schon im Krieg selbst gefragt, ob "solche willenlose und widerstandslose Selbsterniedrigung und Selbstvernichtung eines Volkes möglich gewesen wäre, wenn es seine Pressefreiheit und seine Redefreiheit behauptet hätte?" So aber habe es "Millionen gefallen, dass sie sich keine Mühe geben brauchten, selbst einen Weg zu suchen, sich selbst eine Meinung zu bilden in offener Aussprache und Auseinandersetzung mit den politischen Parteien."

Sag mir, was ich glauben soll

Sag mir, was ich denken soll. Sag mir, welche Überzeugungen ich pflege, welchem Glauben ich anhängen, wen ich bewundern und wen ich verachten soll! Ein Muster, das seitdem immer wieder auftaucht: Was Bernhard Koenen an denen beklagte, die sich für unpolitisch erklärten und nicht "ahnten, wie sie gerade dadurch Werkzeuge der erbärmlichsten, gemeinsten, betrügerischsten und der verlogensten Politik wurden", blieb so sehr Bestandteil des deutschen Wesens über alle Abgründe der Zeit, dass die Deutschen sich spätestens in den düsteren Pandemiejahren sehr gut in der Beschreibung ihrer Großmütter und Großväter erkennen konnten.

Der mangelnde Sinn für den Kampf um die bürgerlichen Rechte und Freiheiten, für kämpferische Demokratie, gegen den Feind im eigenen Lande, für selbständige, entschlossene Massenaktion des Volkes gegen die plutokratischen Nutznießer, Ausbeuter und Unterdrücker gegenüber der ehrlichen Arbeit der breitesten Volksmassen hat leider tiefe Wurzeln in einer alten Tradition unseres Volkes", diagnostizierte Koenen 1946 mit Blick auf die Geschehnisse zwischen März 2020 und heute.  Militarismus und Untertanengeist seien "durch die tragische Geschichte unseres Volkes in den letzten vier Jahrhunderten stärker entwickelt als irgendwo anders" hieß es vor fast acht Jahrzehnten. Und diese "Grundschwächen" (Koenen) sind erhalten geblieben.