Der weiße Mann gewinnt – immer noch

in #politik6 years ago (edited)

Objektiv betrachtet, habe ich sehr viel Glück gehabt im Leben. Ich wurde als weißer, heterosexueller Mann in einem der reichsten Länder der Erde geboren und kann seit jeher die Vorzüge einer stabilen (und vergleichsweise liberalen) Demokratie genießen.

Chuck_Grassley_greets_Brett_Kavanaugh.jpg
Quelle

Allein auf Basis dieser glücklichen Umstände geht es mir, objektiv gesehen, besser als Millionen von anderen Männern außerhalb westlicher Demokratien. Und sehr wahrscheinlich geht es mir im Hinblick auf einen zentralen Aspekt auch besser als den meisten Frauen – weltweit.
Die Rede ist, wie könnte es momentan anders sein, natürlich von einem Leben, das weitestgehend frei von sexuellen Belästigungen jeglicher Art war.
Dafür musste ich nichts Spezielles tun. Schlicht der Umstand meiner Geburt und der damit verbundenen Merkmale genügte, um mir diesbezüglich ein recht unbeschwertes Leben zu ermöglichen.
Das nennt sich Privileg. Ich bin darüber nicht traurig oder beschämt, es ist jedoch wichtig, sich dieses hohe Gut gelegentlich vor Augen zu führen. Vor allem im Hinblick auf die aktuelle Debatte um den nunmehr als Richter am Supreme Court bestätigten Brett Kavanaugh.

Alles nur Verschwörung?

Sofern man einen letzten Funken Restverstand (und Moral) besitzt, kommt man nicht umhin, Dr. Ford Hochachtung für den Mut auszusprechen, dessen es bedurfte, um einen Kampf anzutreten, in dem sie am Ende höchstwahrscheinlich nur unterliegen konnte.
Innerhalb eines politischen Klimas, welches dazu führte, dass ein Mann, der als notorischer Lügner mit rassistischen und misogynen Aussagen zur mächtigsten politischen Figur der Welt aufstieg, scheint ein Kampf für Aufklärung sexueller Übergriffe auf verlorenem Posten zu stehen.
Diesen Kampf dennoch zu wagen, erfordert bemerkenswerten Mut.
Umso bezeichnender waren allerdings auch die öffentlichen Reaktionen auf die Anschuldigungen gegenüber Kavanaugh.
Wenn man sich im Zuge der Berichterstattung durch die Kommentarspalten relevanter Online-Medien gelesen hat, kam man nicht umhin, immer wieder ein gefühltes Heer von (überwiegend männlichen) Kommentatoren zu sehen, die hinter Dr. Fords Aussagen eine bösartige politische Intrige der politischen Linken sahen.
Nun bin ich selbst weit davon entfernt, mich mit den Agenden linker Parteien zu identifizieren, habe also auch keinerlei Grund dafür, mich mit deren Zielen gemein zu machen. Daher rückt auch die Behauptung einer politischen Intrige für mich nur noch mehr ins Absurde.
Aber nehmen wir einmal an, das Ganze ist tatsächlich eine große Inszenierung gewesen, um Kavanaugh als Richter am Supreme Court zu verhindern.
Falls dem so ist, dann wäre diese Show ein Verlustgeschäft sondergleichen gewesen.
Dafür gibt es drei gewichtige Gründe.

Erstens:
Die Chancen standen nie zugunsten der Demokraten. Mit der aktuellen Machtverteilung im Senat (51 Republikaner, 47 Demokraten, 2 Unabhängige) war es von Beginn an sehr unwahrscheinlich, dass Kavanaugh nicht bestätigt werden würde, da die Republikaner natürlich einen der ihren für das höchste Richteramt vereidigt haben wollten. Warum man dafür allerdings nicht einen Kandidaten finden konnte, der sich nicht mit Anschuldigungen wegen sexuellem Missbrauch konfrontiert sah, steht auf einem anderen Blatt.

Zweitens:
Immenses persönliches Risiko für Dr. Christine Blasey Ford. Sie hatte nichts zu gewinnen, indem sie Kavanaugh des sexuellen Missbrauchs beschuldigte. Es darf bezweifelt werden, dass ihre Bücher über statistische Analysen oder Forschungsmethoden in klinischen Studien aufgrund ihres öffentlichen Auftretens eine höhere Auflage erfahren werden.
Stattdessen sah sie sich mit persönlichen Angriffen von Anhängern Kavanaughs konfrontiert. Ihr E-Mail-Konto wurde gehackt, es erreichten sie Beleidigungen und Morddrohungen und sie musste schließlich sogar mit ihrer Familie das Haus verlassen, da der aufgebaute Druck zu groß wurde.
Warum sollte sie all das riskieren (und es war durchaus abzusehen, dass solche Reaktionen folgen würden), wenn die Aussicht etwas zu erreichen, ohnehin kaum vorhanden war?

Drittens:
Nun könnte man natürlich auch noch argumentieren, dass Dr. Ford lediglich ein „Bauernopfer“ dunkler Kräfte war, die mit aller Macht versuchen wollten, Trump zu schaden und seine Entscheidungen zu unterminieren.
Aber auch hier sind starke Zweifel angebracht. Mit den bevorstehenden Mid-Term-Wahlen wäre so ein politischer Coup ein enormes Risiko für die Demokraten – sollte er auffliegen. Eine orchestrierte Aktion birgt immer die Gefahr, dass irgendjemand redet. Wenn die amerikanische Öffentlichkeit davon Wind bekommen hätte, dass die Demokraten versuchten, ein abgekartetes Spiel zu spielen, wäre ein Wahldesaster womöglich vorprogrammiert. Ein so hohes Risiko eingehen, um eventuell einen anderen Supreme-Court-Kandidaten zu bekommen? Äußerst unwahrscheinlich.

Die Mär der Unschuldsvermutung

Etwas sehr Entscheidendes ist vielen Verteidigern Kavanaughs offenbar entgangen: Die ganze Angelegenheit war letztlich ein Job-Interview und kein Strafprozess.
Aus diesem Grund ist die vielbeschworene Unschuldsvermutung auch recht unerheblich.
Bevor gleich die ersten Fackeln ausgepackt werden, um mich auf dem Scheiterhaufen der öffentlichen Meinungsbildung zu verbrennen, möchte ich diese Aussage gerne ein wenig elaborieren.
Ja, die Unschuldsvermutung ist ein hohes Gut, wenn es darum geht, Menschen vor ungerechtfertigten Strafen durch den Staat zu schützen. Völlig zurecht haben sich die Demokratien dieser Welt hohe Standards auferlegt, um die Privilegien ihrer Bürger zu schützen.
Diesen Mechanismus kann man allerdings nicht eins zu eins auf andere Bereiche des öffentlichen Lebens übertragen.
Die Unschuldsvermutung dient dazu, Menschen vor Schaden zu bewahren, also ein Minimum an Rechtssicherheit zu garantieren. Auf einer Skala betrachtet, bewegen wir uns also damit am unteren Grenzbereich.
Bei der Anhörung Kavanaughs ging es jedoch darum, ihn für seine Arbeit zu befördern – hier mussten keine Minimalstandards mehr erfüllt werden, sondern weitaus gewichtigere Prinzipien.
Zu diesen Prinzipien gehört beispielsweise auch, dass ein zukünftiger Supreme Court Judge nicht unter Eid lügen sollte. Woran im Falle von Brett Kavanaugh zumindest gewichtige Zweifel vorliegen.
Auch das ursprünglich von Kavanaugh entworfene Bild seiner Person als Vorzeigestudent, der sich nie etwas zuschulden kommen ließ. Insbesondere hinsichtlich seiner sehr innigen Beziehung mit Alkohol. Mehrere seiner ehemaligen Kommilitonen widersprachen Kavanaughs Behauptung, nie bis zum Blackout getrunken zu haben. Sich besinnungslos zu trinken ist glücklicherweise kein strafbares Vergehen, Kavanaughs Umgang damit sollte aber zumindest Fragen aufwerfen.
Für einen Richter am höchsten Gericht der USA sollten, nein, müssen andere Standards gelten als für die restliche Bevölkerung. Niemand verurteilt Kavanaugh dafür, dass er in seiner Studienzeit zu viel getrunken hat. Problematisch wurde es erst dann, als er diesbezüglich öffentlich log und ein Bild von sich zeichnete, welches nicht den Tatsachen entsprach. Ein Richter am Supreme Court sollte nicht ein derart fragwürdiges Verhältnis zur Wahrheit haben.

Nochmal: das ganze Geschehen ist kein Strafprozess, sondern ein Job-Interview gewesen.
Gehen wir einmal davon aus, dass die Anschuldigungen gegenüber Kavanaugh nicht wahr oder auch nur halb so schlimm sind. Als Außenstehender kann man das momentan ohnehin nur bedingt beurteilen.
Stellen wir uns weiterhin einmal vor, dass wir uns in der hypothetischen Position befinden, einen privaten Klavierlehrer für ein Mädchen im Teenageralter (Tochter, Nichte, Freundin, etc.) zu finden.
Nun hören wir gegenüber unserem Wunschkandidaten ähnliche Anschuldigungen wie beim Fall Kavanaugh.
Würde man unter diesen Umständen tatsächlich eine behördliche Untersuchung vehement ablehnen? Würde man nicht zumindest an der eigenen Entscheidung zweifeln, seine Schutzbefohlene in die Obhut eines Mannes zu geben, der sich mit diesen Anschuldigungen konfrontiert sieht? Nur für den Fall, dass an den Behauptungen womöglich doch was dran ist?
Warum sollte man dasselbe Vorgehen für ein Amt verweigern, das ungleich mehr Macht mitsichbringt?
Irgendwie erschließt sich mir die Logik nicht so recht.

Ein beliebtes „Argument“ im Zuge dieser Debatte war auch, dass es momentan doch so sei, dass eine Frau nur sagen müsse, es hätte einen sexuellen Missbrauch gegeben und sofort wäre das Leben des Mannes ruiniert.
Diese Annahme ist so unsinnig wie realitätsfern. Allein der Umstand, dass Kavanaugh trotz aller Anschuldigungen und zweifelhaften Umstände nun Richter am Supreme Court ist, straft diese Behauptung Lügen. Aber man kann sich auch einmal ein paar Statistiken anschauen.
In einer sehr detaillierten Studie Anfang der 2000er beschäftigten sich einige britische Forscher unter anderem mit der Frage, welche Zahlen zu falschen sexuellen Missbrauchsvorwürfen vorliegen.
2643 Fälle sexueller Übergriffe wurden insgesamt angezeigt – 216 davon erwiesen sich als falsch. Nur 126 dieser Beschuldigungen wurden überhaupt formal gegenüber der Polizei festgehalten; nur 39 gaben einen Tatverdächtigen an; in sechs Fällen wurde eine Verhaftung durchgeführt und in lediglich zwei Fällen kam es überhaupt zu einer Verhandlung, bevor die Beschuldigungen zurückgewiesen worden.
Alternativ kann man auch ins National Registry of Exonerations schauen, wo man sehen kann, dass von allen verurteilten Sexualstraftätern seit 1989 lediglich 52 unschuldig einsaßen – bei Mördern waren es im gleichen Zeitraum jedoch 790 Fälle. Und ja, ich bin mir der Unterscheidung zwischen relativen und absoluten Zahlen bewusst und dass die Anzahl an Straftaten mit Todesfolge höher ist, was natürlich auch die absolute Zahl an fälschlich inhaftierten Insassen in die Höhe treibt.
Allerdings deckt sich die geringere Zahl an inhaftierten Sexualstraftätern auch mit einer anderen Statistik – nämlich, dass jene Täter grundsätzlich seltener inhaftiert werden:

Out_Of_1000_Rapes 122016.png

Offenbar ist der Mythos des armen, fälschlich beschuldigten Mannes in den meisten Fällen tatsächlich genau das – ein Mythos.
Mit sexuell übergriffigen Männern leben zu müssen, ist für viele Frauen allerdings bis heute bittere Realität. Jeden Tag. Darum war es gut und richtig, dass Dr. Ford den Mut fand, sich offen gegen Kavanaugh zu stellen.

Nach momentanem Stand lässt sich leider nicht eindeutig feststellen, ob Dr. Fords Anschuldigung gegenüber Kavanaugh zutrifft. Auch wenn ich geneigt bin, ihr diese zu glauben, lässt sich eine abschließende Aussage zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht treffen. Das ist sehr bedauerlich, aber nur schwer zu ändern. Ich bin mir des damit verbundenen Dilemmas nur zu gut bewusst.

Als Opfer sexueller Übergriffe hat man hat grundsätzlich verloren.
Spricht man direkt danach offen darüber, braucht es mindestens eine amtlich beglaubigte Bestätigung, dass der entsprechende Übergriff tatsächlich stattgefunden hat - sonst steht nur Aussage gegen Aussage und behaupten kann schließlich jeder.
Schweigt man (z. B. aus Angst oder Scham) darüber, ist es hingegen nie passiert, die Tat bleibt ungesühnt und alles wie gehabt.
Bricht man nach langer Zeit dann doch das Schweigen, ist alles nur eine Intrige, um den Täter ins soziale Abseits zu stellen und gesellschaftlich zu ruinieren.
Eine Lose-Lose-Lose-Situation quasi. Es ist ein Elend.

Die Lösung?
Ich weiß es nicht. Weniger ungefragt die eigenen Triebe ausleben? Menschen mit Respekt behandeln? So ganz generell weniger Arschloch sein?
Klingt langweilig? Könnte genau deshalb eine gute Idee sein.
Mehr Logos, weniger Pathos wagen.

Sort:  

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Super ausgeführt! Auf die Frage was Frau Dr. Ford für einen Vorteil durch ihre Aussage hätte, konnte ich mir auch keinen Reim machen. Und wir Menschen handeln bekanntlich immer unter Berücksichtigung der positiven oder negativen Konsequenzen. Das Risiko einer negativen Konsequenz war in diesem Fall sehr hoch, daher seh ich keinen Zweifel an der Glaubwürdigkeit ...

Ja, mit simpler Logik scheinen es die meisten Leute dieser Tage nicht wirklich zu haben. Leider.

Nichtmals die Gestapo hat Denunziationen ernst genommen wtf

Natürlich stellt sich die Frage, ob die amerikanische Regierung an das Amt eines Richters am Supreme Court überhaupt besondere, moralische Anforderungen hat.

Wahrscheinlicher ist doch, dass auf moralischer Ebene ein "so gerade noch unschuldig" völlig ausreichend ist. Das Einstellungskriterium lautet meiner Meinung nach: "politisch absolut linientreu".

Was für einen lebenslang gewählten, höchsten Richter natürlich stark an den Grenzen demokratischer Grundsätze kratzt.

Aber amerikanische Demokratie ist eben anders. Die haben auch nur zwei relevante Parteien. Wovon die "linke" von beiden, im politischen Spektrum ein wenig rechts unserer FDP zu verorten wäre.......

liebe Grüße
gernfried2000

Tja, schwer zu sagen ob an den Vorwürfen was dran ist. Der Vollständigkeit halber will ich noch hinzufügen, dass es auch ein Versuch sein kann, Kavanaugh zu Fall zu bringen. Ich fand folgenden Artikel interessant (Vorsicht Deep State Verschwörung), da scheint Kavanaugh eine wichtige Rolle zu spielen: https://www.collective-evolution.com/2018/10/12/many-insiders-believe-military-tribunals-for-deep-state-will-happen-any-time-now/